Vier Wochen nach den Wahlen in Thüringen trat am Donnerstag der neue Landtag zum ersten Mal zusammen. In der Sitzung unter der Leitung von AfD-Mann Treutler sollte vor allem geklärt werden, wer den wichtigen Posten des Präsidenten bekommt. Doch dazu kam es nicht.
Es war das erwartete Kräftemessen zwischen der Höcke-AfD und den übrigen Fraktionen im Thüringer Landtag. Im Mittelpunkt stand der 73-jährige Jürgen Treutler von der AfD. Als Alterspräsident sollte er die Sitzung eigentlich bis zur Wahl eines neuen Landtagspräsidenten leiten. Nach vier Stunden Sitzung, sechs Pausen und hitzigen Wortduellen vertagte er die turbulente Sitzung am Ende. Die CDU hatte im Streit um die Wahl des Landtagspräsidenten „zum letzten Mittel“ gegriffen und das Thüringer Verfassungsgericht angerufen.
Die Richter müssen jetzt klären, wie das Parlament zu einem Präsidenten kommt. Die Thüringer Verfassung und Geschäftsordnung des Landtags lassen Auslegungsspielräume zu. In der Verfassung steht nur, dass der Landtag den Präsidenten aus seiner Mitte wählt. Die Geschäftsordnung sagt immerhin, dass die stärkste Fraktion Kandidaten vorschlagen darf. Was aber passiert, wenn diese Vorschläge abgelehnt werden, ist unklar und unter den Fraktionen streitig. CDU und BSW wollten deshalb noch vor der Wahl des Präsidenten die Geschäftsordnung ändern. Treutler und der Rest der AfD meinen, dies sei erst nach der Konstituierung des Landtags – also nach der Wahl – möglich. Viel Zeit bleibt den Verfassungsrichtern nicht, um diese Frage zu klären: Die Sitzung des Landtags wird Samstag um 9.30 Uhr
fortgesetzt.
Bis dahin muss sich die Thüringer CDU die Frage gefallen lassen, warum sie es überhaupt so weit hat kommen lassen. Noch vor einem Dreivierteljahr hatte sie einen Vorschlag der Grünen auf Änderung der Geschäftsordnung abgelehnt. Der damalige Vorschlag deckt sich mit dem jetzigen Änderungsantrag von CDU und BSW. Man habe damals keinen dringenden Handlungsbedarf gesehen, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Andreas Bühl, dem MDR. In der Landtagssitzung am vergangenen Donnerstag bezeichnete er das Vorgehen des Alterspräsidenten unterdessen als „Machtergreifung“.
Unser Korrespondent Markus Wehner hat die chaotische Sitzung vor Ort beobachtet. In diesem Briefing finden Sie seine Analyse. Auch im Einspruch-Podcast haben wir über den drohenden Eklat in Erfurt gesprochen und die Rechtslage mit Professor Groh von der Universität der Bundeswehr München untersucht.
Die Wahlerfolge der AfD bei den jüngsten Landtagswahlen sind auch Gegenstand zweier exklusiver Gastbeiträge in diesem Briefing. Hans-Peter Bull, ehemaliger Innenminister Schleswig-Holsteins, unterbreitet Vorschläge, wie man den Verfassungsschutz neuformieren sollte. Professor Martin Burgi von der LMU München appelliert, die Demokratie auch auf Ebene der Städte, Gemeinden und Landkreise zu stärken.
Außerdem im Briefing: In der vierten Ausgabe unserer Interviewreihe mit Juristen, die einen anderen Weg eingeschlagen haben, erzählt uns der Manager Dirk Boll vom traditionsreichen Auktionshaus Christie’s, was ihn von der Rechtswissenschaft zum Kunst- und Auktionsgeschäft geführt hat.
In der konstituierenden Sitzung des Landtags in Erfurt kommt es zum Eklat. Die CDU spricht von „Machtergreifung“.
Von Markus Wehner, Erfurt
Die konstituierende Sitzung im Erfurter Landtag wird am Donnerstag schon nach wenigen Minuten unterbrochen. Als die CDU den Alterspräsidenten Jürgen Treutler darum bittet, die Beschlussfähigkeit des Landtags festzustellen, lehnt der AfD-Politiker das ab. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Andreas Bühl, besteht auf einer Abstimmung. Er bittet die Parlamentarischen Geschäftsführer der anderen Fraktionen, nach vorn zu kommen. Sie beraten mit dem Alterspräsidenten. Treutler sagt nach wenigen Minuten, man habe sich geeinigt, dass er zunächst seine Rede halten könne.
Björn Höcke und Wiebke Muhsal verlassenden Sitzungssaal, während die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags zum dritten Mal unterbrochen ist. dpa
Sieben Länder hatten eine Initiative für einen weitergehenden Schutz des Bundesverfassungsgerichts auf den Weg gebracht. Auch Bayern war zunächst dabei. In dem überarbeiteten Antrag taucht der Freistaat nicht mehr auf.
Von Marlene Grunert, Berlin
Bayern ist von einer Bundesratsinitiative zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor autoritären Populisten abgerückt, die das Land vergangene Woche noch selbst mit eingebracht hatte. In dem Antrag plädierten ursprünglich sieben Bundesländer für weitergehende Regeln als die von Union und Ampel vorgeschlagenen. Nordrhein-Westfalen, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein forderten, Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes künftig von der Zustimmung des Bundesrates abhängig zu machen. In dem überarbeiteten Antrag von Donnerstag taucht der Freistaat nicht mehr auf.
Soll rechtlich besser geschützt werden: das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dpa
Viele Politiker sind durch die AfD-Wahlerfolge alarmiert. Dem Verfassungsschutz kommt im Umgang mit der Partei eine wichtige Aufgabe zu. Bestimmte Gruppen aber pauschal als „Verfassungsfeinde“ zu diskriminieren verhindert den Dialog.
Von Hans Peter Bull
Die Politik versucht, autoritären und extremistischen Gruppierungen den Weg zur staatlichen Macht zu versperren, indem sie die Instrumente nutzt, die das Grundgesetz dafür vorsieht: Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder sollen die freiheitliche demokratische Ordnung schützen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b GG), deren Gegner beobachten und Beweise liefern. Die Arbeit dieser Ämter soll auch Partei- und Vereinsverbotsverfahren (Artikel 21 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 GG) und die Feststellung von Grundrechtsverwirkungen (Art. 18 GG) vorbereiten.
Unser Gastautor meint: Der Verfassungsschutz sollte politische Vereinigungen nicht diskriminieren. Reuters
Der Jurist Dirk Boll hat eine steile Karriere als Kulturmanager bei Christie’s gemacht. Im Interview erzählt er, was ihn von der Juristerei in das Auktionsgeschäft geführt hat.
Von Finn Hohenschwert
Dirk Boll arbeitet seit 1998 für den Auktions-Riesen Christie’s. Nach mehreren Stationen in dem traditionsreichen Unternehmen lenkt er die Geschäfte dort als Vorstand für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts für Europa, den Nahen Osten und Afrika inzwischen mit. Vor seiner Karriere im Auktionsgeschäft studierte er Jura in Göttingen und Freiburg, machte ein Aufbaustudium im Kulturmanagement und promovierte über den Kunstmarkt. Wir haben Dirk Boll gefragt, wie er zu Christie’s gekommen ist und ob er eigentlich noch den Trierer Weinversteigerungsfall kennt.
Von der Juristerei zum traditionsreichen Auktionshaus Christie’s: Der Jurist Dirk Boll im Gespräch über seine außergewöhnliche Karriere als Kunstmanager. REUTERS
Die jüngsten Landtagswahlergebnisse sind Auftrag, die Demokratie zu stärken. Die Ebene der Städte, Gemeinden und Landkreise wird dabei zu wenig beachtet. Das muss sich ändern – auch im Grundgesetz.
Von Martin Burgi
Die Gefährdung der Demokratie durch Verdrossenheit, Populismus und Polarisierung hat längst die kommunale Ebene erreicht. Sie äußert sich dort in sinkender Wahlbeteiligung, Zunahme von Hass und Hetze sowie Fragmentierung der Vertretungskörperschaften – gleichermaßen in Stadt wie Land. Während die Bundespolitik erfreulich rasch die notwendige Zweidrittelmehrheit zusammengebracht hat, um das Bundesverfassungsgericht wetterfester zu machen, stehen solche Überlegungen für die kommunalen Institutionen noch am Anfang. Dabei stellt eine gefährdete Demokratie auch in den Gemeinden, Städten und Landkreisen die Zukunftsfestigkeit des politischen Systems in Frage.
Die jüngsten Landtagswahlergebnisse sind Auftrag, die Demokratie zu stärken. - 26.05.2024, Berlin: Besucher gehen über das Demokratiefest anlässlich des Jubiläums 75 Jahre Grundgesetz dpa
Der RBB setzt alles daran, dass er am Wahlabend die Ergebnisse kleinerer Parteien nicht eigens zeigen muss. Jetzt entschied sogar das Bundesverfassungsgericht. Der Sender kann sich freuen, vorerst.
Von Jochen Zenthöfer
Vor wenigen Tagen hatte der Rechtsanwalt der Tierschutzpartei, Korbinian Geiger, aufatmen können. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg war seinem Antrag gefolgt. Die Richter hatten den RBB verpflichtet, am Wahlabend in Brandenburg alle Parteien gesondert auszuweisen, die mehr als zwei Prozent bekommen. Das sollte für maximal zehn Parteien gelten. Somit wäre der RBB gezwungen gewesen, mehr Ergebnisbalken einzublenden, und nicht, wie üblich, zahlreiche Parteien als „Andere“ zusammenzufassen. Doch der RBB konnte sich mit seiner Niederlage nicht abfinden und rief zwei Tage vor der Landtagswahl das Bundesverfassungsgericht zu Hilfe. In einem 20 Seiten langen Schriftsatz, der der F.A.Z. vorliegt, begründete der Sender, warum er die wenigen Sekunden nicht aufbringen will, die es
kosten würde, die Tierschutzpartei und andere möglicherweise betroffene Parteien, etwa die FDP, eigens zu nennen.
Der RBB kann kleinere Parteien am Wahlabend unter „andere“ laufen lassen. Das entschied das Bundesverfassungsgericht. dpa
In Folge 315 dreht sich (fast) alles um das Bundesverfassungsgericht. Es geht um drei Entscheidungen zu Ausschussvorsitzen für die AfD, Hessens Verfassungsschutzgesetz und die Tierschutzpartei im RBB. Außerdem: Was sagt das Völkerrecht zu den explodierten Pagern in Libanon?
Sabbaticals bieten Unternehmen die Chance, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren und die Motivation der Mitarbeiter zu stärken. Dabei gilt es, die rechtlichen Rahmenbedingen im Vorfeld sorgfältig zu prüfen.
Die Digitalisierung hat die Rechtsbranche erfasst. Das Stichwort lautet: Legal Tech. Was genau fällt eigentlich darunter, und welche Vor- und Nachteile sind mit der neuen Technik verbunden?
IQB Karrieremagazin Redaktionsteam
VERANSTALTUNGSKALENDER
Karriereevents für Juristen
Hier finden Sie auf einen Blick alle Events rund um die juristische Karriere – für alle, die in der Rechtsbranche beruflich ein- oder aufsteigen wollen.
Der Deutsche Ethikrat ist seit Monaten nicht arbeitsfähig. Es fehlt ein Personalvorschlag der Bundesregierung. Darüber regt sich Unmut.
Von Stephan Klenner
Im Deutschen Ethikrat wächst der Unmut darüber, dass die Bundesregierung noch keine neuen Mitglieder für das Gremium benannt hat. „Die aktuelle Situation ist für mich erstaunlich und ärgerlich. Das Ende der Ratsperiode war lange bekannt. Ich verstehe nicht, warum die Bundesregierung noch immer keine Mitglieder benannt hat“, sagt Ethikratsmitglied Judith Simon der F.A.Z. Die Hamburger Professorin gehört mit Elisabeth Gräb-Schmidt, Armin Grunwald und Mark Schweda zu den vier noch amtierenden Ethikratsmitgliedern. Sie sind noch in ihrer Funktion, da ihre Amtszeit außerhalb des regulären Wahlturnus begann. Für zwanzig Ethikratsmitglieder endete die Amtszeit hingegen im April. Seitdem wartet der Rat darauf, vervollständigt zu werden.
Wen will Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger im Ethikrat haben? dpa
Frauen scheitern mit Verfassungsbeschwerde zum Mutterschutz
. Junge Mütter haben ein Recht auf Schutz und finanzielle Unterstützung. Dies wird Frauen nach einer Fehlgeburt verweigert. Das Bundesverfassungsgericht rügt dies, nimmt die Beschwerden aber aus formalen Gründen nicht zur Entscheidung an.
Die Luft für Böhmermann wird dünner
. Der Ex-Chef des Bundesamts für Cybersicherheit, Arne Schönbohm, fordert vom ZDF Unterlassung und Schadenersatz wegen Jan Böhmermann. Der hatte nahegelegt, Schönbohm habe Russland-Kontakte. Das Gericht sieht das skeptisch.
Aldi Süd verliert vor dem EuGH
. Bananen um 23 Prozent reduziert - mit solchen Angeboten locken Supermärkte ihre Kunden. Aber ist es wirklich ein guter Deal oder wird gemogelt? Der EuGH stärkt nun Verbrauchern den Rücken.
Gericht ordnet medizinisches Gutachten für Ex-VW-Chef an
. Im Verfahren gegen den Ex-VW-Chef Martin Winterkorn bestellt das Gericht ein medizinisches Gutachten. Der Prozess war zuvor nach einem „Unfall im häuslichen Umfeld“ verschoben worden.
Ausblick
Montag, 30. September 2024
Paris: Prozessauftakt gegen die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen wegen Veruntreuung von EU-Geldern.
Dienstag, 1. Oktober 2024
Karlsruhe: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet sein Urteil in Sachen "Bundeskriminalamtgesetz II".
Buenos Aires: Beginn des Prozesses gegen acht Mediziner und Pflegekräfte wegen fahrlässiger Tötung des früheren Fußballspielers Diego Maradona.
Mittwoch, 2. Oktober 2024
Luxemburg: Das Gericht der Europäischen Union (EuG) entscheidet über restriktive Maßnahmen angesichts der Situation in der Ukraine. Die Niederländische Anwaltskammer in Brüssel, die Pariser Anwaltskammer, und der französische Verband der Unternehmensberater klagen gegen ein Verbot gegen die Erbringung von Dienstleistungen in bestimmten Bereichen.
Donnerstag, 3. Oktober 2024
Berlin: Tag der deutschen Einheit. Tag der offenen Moschee.
Schwerin: Offizielle Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit, die in diesem Jahr vom Bundesland Mecklenburg-Vorpommern ausgerichtet werden. Es findet auch die symbolische Amtsübergabe der Bundesratspräsidentschaft von Mecklenburg-Vorpommern ins Saarland statt.
Freitag, 4. Oktober 2024
Luxemburg: Mehrere Entscheidungen des EuGH, unter anderem über deutsche Beihilfen für Unternehmen während der Covid-19-Pandemie, Verarbeitung personenbezogener Daten zwecks personalisierter Werbung, Änderung des Geschlechts und des Vornamens und Untersagung der Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens durch Tata Steel und ThyssenKrupp.